Archiv für alternatives Schrifttum

 
 

Zehn Jahre afas: die Geschichte des Archivs für Alternatives Schrifttum

 

Die Idee

1985 bis 1995, das waren zehn Jahre Ar beit an der Realisation einer Idee, die 1984 an einem Herbstabend in einer Duisburger Kneipe geboren wurde: Ausgangspunkt war die Frage, warum es so wenig Geschichtsschreibung über die Verlierer in der Geschichte, über die oft kurzlebigen politischen Bewegungen gegen den Strom, über die ebenso kurzlebigen selbstorganisierten Interessenverbände der Benachteiligten, über die oft weitsichtigen, aber vereinzelten Kritiker bestimmter ge sellschaftlicher Entwicklungen gibt. Klar, wie soll Geschichte geschrieben werden ohne Quellen? Und wer bewahrt die Dokumente auf, die von diesen Initiativen in ihrer kurzen Geschichte produziert werden? Die großen Parteien, die Kirchen, die Gewerkschaften, auch die großen Unternehmen institutionalisierten das Bewahren der eigenen Geschichte. Partei- , Gewerk schafts-, Kirchen- und Unternehmensarchive gibt es seit langem. Dort finden die Historiker die Informationen, die sie für ihre Studien über diese Institutionen brauchen. über die freien, selbstorganisierten Initiativen der engagierten Bürger, die sich in Politik und Gesellschaft einmischen und die zur Verbreitung der eigenen Positionen Flugblätter, Broschüren, Dokumentationen und Zeitschriften drucken, gibt es - von wenigen Ausnahmen abgesehen - meist nur zufällig von Privatpersonen Gesammeltes, das außerdem selten irgendwo nachgewiesen ist. Eine dieser Ausnahmen stellt das ID-Archiv im Amsterdamer "Internationalen Institut für Sozialgeschichte" dar, das vor fast zwanzig Jahren aus der Zeitung ID, Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten, in Frankfurt/Main hervorging, und das schließlich aus Gründen der Existenzsicherung in die Niederlande auswandern mußte. In Berlin gibt es das APO-Archiv an der Freien Universität, das umfassend Dokumente der Linken aus den sechziger und siebziger Jahren archiviert hat. Weitere Ausnahmen bilden inzwischen die auf einzelne Städte bezogenen Archive von Geschichtswerkstätten oder die auf bestimmte Problembereiche oder Bewegungen bezogenen Archive, die aus Friedens-, Umwelt- oder Frauengruppen hervorgegangen sind. Das Sammeln und Archivieren von Informationen ist in den letztgenannten Institutionen in der Regel unmittelbar auf die Praxis einer Gruppe bezogen. Mit dem Untergang dieser Gruppe geht dann meist auch das Archiv unter, das Material wandert bestenfalls in eins der oben genannten größeren Archive, schlimmstenfalls auf die Müllkippe. Da es kaum systematisch über längere Zeit gesammelte Informationen zu kritischen Gegenbewegungen gibt, werden die hier diskutierten Fragestellungen, Tendenzen und Widerstände für die Historiker oft erst sichtbar, wenn sie Einzug in die etablierten Institutionen gehalten haben. So drängt sich der Eindruck auf, daß sich gesellschaftliche Innovationen oder Problembewußtsein gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Sachverhalten und Fehlentwicklungen nur in großen Organisationen entwickeln können. Der bequeme Satz, "Was kann ich schon ausrichten, als 'normaler Bürger'", läßt sich tausendfach belegen. Aber so ist es nicht! Gewalt in der Ehe wurde in kleinen Frauengruppen angeprangert, lange bevor die Vergewaltigung in der Ehe endlich im öffentlichen Bewußtsein zum Straftatbestand wurde. Der "Schnelle Brüter in Kalkar" wurde von Umweltgruppen lange z.T. militant bekämpft, bis das Projekt endlich aufgegeben wurde. Heute anerkannte Schriftsteller und Dichter publizierten ihre Werke oft jahrelang in kleinen, selbstorganisierten Literaturzeitungen und Verlagen, bevor die großen Verlage auf sie aufmerksam wurden. ökologische Probleme wurden, lange bevor die großen Parteien über sie nachzudenken begannen, in kleinen Gruppen zum Thema gemacht. Zunächst waren es 'technologiefeindliche Spinner', dann waren es 'grüne Spinner' und jetzt wird sogar in der CDU darüber diskutiert, ob Koalitionen mit Bündnis 90 - Die Grünen möglich sein sollten. Die Publikationen der kleinen Initiativen spiegeln oft seismographisch gesellschaftliche Probleme und Tendenzen wider, die z.T. viel später massenwirksam werden und eine politische Lösung verlangen. Die parlamentarische Demokratie, die die politischen Entscheidungen an hierfür gewählte Gremien delegiert, ist zur Erhaltung ihrer Lebendigkeit und zu ihrer Weiterentwicklung auf kritische Beobachter angewiesen. Die Verwalter brauchen, um in ihren Sachzwängen nicht zu ersticken, kritische Anstöße von außen, brauchen eine Gegenöffentlichkeit, die Gegendruck ausübt. Wie wächst solch eine Gegenöffentlichkeit? Was kann jemand, der sich einmischen will, der sich nicht auf das "was kann ich schon ausrichten?!" zurückziehen will, aus den Veröffentlichungen der kritischen Gegenbewegungen lernen? Vor der Beantwortung dieser Fragen steht noch eine andere: Wo kann man/frau diese Veröffentlichungen finden? Solche überlegungen bildeten den Hintergrund für die Idee, ein 'Archiv für alternatives Schrifttum' zu gründen.

Die Anfangseuphorie

Aber am Anfang gab es nicht nur Fragen, es gab auch Material: wenig zunächst, gesammelt von ein paar Beteiligten als Dokumente der persönlichpolitischen Geschichte, ein paar Flugblattordner, ein paar Zeitungen, Studentenzeitungen, Zeitungen der Neuen Linken, der Spontis der 70er Jahre. Dann kam das Problem: Wie finden wir einen Raum für dieses Material und wie bauen wir die Materialsammlung aus? Engagement war da, Geld zum Anmieten eines Raumes nicht. Da wir davon ausgingen, daß unser Interesse, ein Archiv für Publikationen aus der Gegenöffentlichkeit zu gründen, auch auf öffentliches Interesse stoßen müßte, dachten wir an staatliche bzw. kommunale Unterstützung. Klar war uns, daß nur derjenige einigermaßen ernst genommen wird, der als Vertreter einer 'registrierten Gruppe', eines 'eingetragenen Vereins' auftritt. So gründeten wir also einen Verein, schrieben uns eine Satzung mit allem 'Drum und Dran', wählten einen Vorstand und einen Kassenprüfer, setzten Mitgliedsbeiträge fest und suchten uns einen abkürzungsfähigen Namen. Die Abkürzung afas, 'Archiv für alternatives Schrifttum in NRW', gefiel allen am besten. Als afas traten wir an die Stadt Duisburg heran und bald hatten wir den gesuchten Raum, vom Kulturdezernat der Stadt im Kultur- und Freizeitzentrum Rheinhausen zur Verfügung gestellt. Als afas traten wir an das Arbeitsamt Duisburg heran und bald hatten wir eine vom Arbeitsamt finanzierte ABM-Stelle. Zunächst schien alles viel einfacher, als wir geglaubt hatten. Wir bauten Regale aus auseinandergesägten Schränken, sammelten Weinkartons als Archivschachteln, sprachen in Duisburg ansässige Firmen auf Büromöbel an und bekamen zwei Schreibtische und einige Stühle geschenkt. Vom Leiter der Stadtbibliothek in Duisburg erhielten wir unser erstes Mikrofiche-Lesegerät und später auch Standregale von der Stadtbibliothek und dem Stadtarchiv als Leihgaben. Ein befreundeter, linker, Berliner Rechtsanwalt spendete seinen ausrangierten Kopierer, der ökofonds NRW gab die erste größere Geldspende, mit der Papier und Toner und die Wartung des Kopierers bezahlt und unser erstes Faltblatt gedruckt werden konnten. Die ersten Zeitschriften wurden katalogisiert, und es wurde das ehrgeizige Projekt in Angriff genommen, möglichst flächendeckend in Nordrhein-Westfalen alle Bürgerinitiativen, Stadtteil- und Stadtzeitungsinitiativen, Friedens-, ökologie-, Frauen- und Selbsthilfegruppen anzusprechen und sie zu bitten, uns ihre Materialien kostenlos zu überlassen. Reisen von einer Stadt zur anderen, Auftritte auf Kongressen der Szene machten Spaß und das afas bekannt. Die ersten Briefumschläge mit Geschenkabonnements wurden gefeiert, die ersten Benutzer bekamen Kaffee und Kuchen, es herrschte Aufbruchseuphorie: Eine Stammtischidee nahm Gestalt an. Mit ca. 20 Zeitschriften in unserem Bestand hatten wir 1985 angefangen, 1988 erschien unser erster Zeitschriften- Bestandskatalog mit 370 Zeitschriftentiteln, 1990 der zweite mit 1200 Titeln. Wir publizierten unsere mit Hilfe von Druckkostenzuschüssen des Landschaftsverbands Rheinland finanzierten Kataloge, weil wir das Archiv bekannt machen und mit der Verbreitung dessen, was bei uns zu finden ist, zur Benutzung auffordern wollten. Außerdem bewährten sich die Kataloge als 'Werbegeschenke' bei der Materialsuche. Viele Initiativen reagierten auf die Kataloge, indem sie sagten: "Wasdas Blättchen ist in Eurem Katalog? Dann müszligt Ihr unsere Zeitung aber auch haben!- Und schon waren wir den Verteiler aufgenommen.

Freunde und Helfer

Es gäbe das afas nicht, wenn die Initiativen, Gruppen und Bewegungen, deren Material wir sammeln, uns nicht akzeptieren und unterstützen würden. Nur dadurch, daß viele Gruppen es sinnvoll finden, ihre Geschichte nicht zu einer Geschichte der verlorenen Dokumente werden zu lassen und die uns deshalb Belegexemplare ihrer Druckproduktionen, ihrer Zeitungen, Flugblätter, Broschüren und Dokumentationen unaufgefordert und ohne Rechnung schikken, können wir die Funktion wahrnehmen, die als Idee hinter der Gründung des afas stand und steht: Jedem interessierten Bürger, aber auch jedem eine Diplom-, Doktorarbeit oder sonstige Studie schreibenden Studenten oder Wissenschaftler sollten Quellen zur Geschichte der alternativen Gegenöffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Mit dem Wachstum des Archivs waren wir immer dringender auf öffentliche Unterstützung angewiesen. Bei den gegebenen Arbeitskapazitäten war die Katalogisierung auf konventionelle Art an der Schreibmaschine nicht mehr zu leisten. Wir brauchten einen neuen Kopierer und später einen Computer und bekamen beides nach Verhandlungen mit dem sehr hilfsbereiten Bibliotheksreferenten des Kultusministeriums des Landes NRW, Herrn Solle, und nach dessen Pensionierung mit der ebenso hilfsbereiten Bibliotheksreferentin, Frau Dr. Galsterer. Wir kauften ein Archiv- Verwaltungsprogramm und stellten unsere Kataloge auf EDV um. Nach wie vor lebte das Archiv hauptsächlich von ehrenamtlicher Arbeit. Um geregelte öffnungszeiten und kontinuierliche Kontaktpflege zu unseren Materialgebern zu gewährleisten und um der Materialflut katalogtechnisch gewachsen zu sein, brauchten wir neben technischen Hilfsmitteln und ehrenamtlicher auch bezahlte Arbeitskraft. Da unsere gedruckten Kataloge Anerkennung in der bibliothekarischen öffentlichkeit fanden, gelang es uns hier, Fürsprecher zu finden. Professor Gattermann, ehemaliger Leiter der Universitäts und Landesbibliothek Düsseldorf, und Herr Dr. Jammers, ehemaliger Bibliotheksreferent im nordrhein-westfälischen Wissenschaftsministerium, halfen uns, den Kontakt zum Kulturausschuß des Landtags Nordrhein- Westfalen aufzubauen. Im Frühjahr 1992 beschloß der Kulturausschuß, daß die Leiter-Stelle des Archivs abgesichert werden müßte. Partiell ist das inzwischen gelungen. Vom Kultusministerium finanziert, können wir den wissenschaftlichen Leiter des Archivs inzwischen 7 Monate im Jahr bezahlen. Die Gelder hierfür müssen allerdings jährlich neu als Projektmittel beantragt werden. Ein Problem, dessen wir uns am Anfang gar nicht bewußt waren, der drohende Papierzerfall unserer z.T. auf Recycling- Papier gedruckten Zeitungen und Broschüren, konnte mit Unterstützung des Bibliotheksreferats des Wissenschaftsministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen aufgefangen werden. Ein Kooperationsvertrag mit der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf ermöglicht nach und nach die Verfilmung eines Teils unserer Bestände in der ULB Düsseldorf. Dadurch sind die Texte auf lange Zeit gesichert. Die Bibliothek der University of California at Berkeley, die durch einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung auf uns aufmerksam wurde, unterstützt die Verfilmung weiterer Zeitungen, indem sie Mikrofiche-Kopien von bestimmten Zeitungen bei uns bestellt und bezahlt. Wir behalten das Copyright und die Masterfiches dieser Verfilmungen. Seit mehr als zwei Jahren können wir mit Mitteln der ökologie-Stiftung NRW außerdem freie Mitarbeiter bezahlen, die bei der Materialbeschaffung, Sichtung, Zuordnung und Katalogisierung Grüner Publikationen behilflich sind. Etwas Geld kam in die Archivkasse durch den Verkauf unserer Zeitschriftenkataloge an Bibliotheken und durch den Verkauf eines bei uns erstellten Registers der in der Szene bekannten Musikzeitung Spex an Privatpersonen und Musikredakteure. Private Spenden und Mitgliedsbeiträge ermöglichen z.B. das Bezahlen von Reisen, Telefon- und Faxrechnungen sowie den Ankauf von Materialien, die nur noch in Antiquariaten zu bekommen sind.

Die Mühen der Ebene

In der alltäglichen Arbeit haben die bezahlten Mitarbeiter im Archiv viel von der anfänglichen Euphorie eingebüßt. Der Kampf um die Existenz, der Kampf um einen Monat mehr oder weniger bezahlte Arbeit, dazu die nervenaufreibende Stellenverwaltung mit Lohnabrechnungen, Abführen von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen etc. schmälerten die Freude am Wachstum des Archivs. Dazu kommt, daß der selbstgesetzte Anspruch, flächendeckend für Nordrhein-Westfalen und exemplarisch für das ganze Bundesgebiet historische Lücken seit den sechziger Jahren zu schließen und darüberhinaus neue Entwicklungen mitzubekommen, die vorhandene Arbeitskapazität bei weitem übersteigt. Es müßten Prioritäten gesetzt werden, es müßte vielleicht manchmal die übernahme einer angebotenen Schenkung abgelehnt werden, wenn langfristig der Platz für mindestens zwei Schreibtische im Archiv erhalten bleiben soll. Aber das Ablehnen fällt schwer. Umso mehr, da man nie wissen kann, ob sich z.B. in einer angebotenen Sammlung nicht spannende Raritäten befinden, die man nie wieder und auf keinem anderen Wege angeboten bekommt. Doch nicht nur für die Professionellen im Archiv ist die tägliche Arbeit mühsam: Je stärker die öffentliche Akzeptanz wurde, je mehr Material wir bekamen, desto weiter entfernten sich ehrenamtliche und bezahlte Mitarbeiter des Archivs voneinander. Ursprünglich war das Archiv eine selbstorganisierte, freie Initiative, die allen Beteiligten Spaß machte. Es kam manchmal nicht ganz so genau darauf an, ob ein Titel im Zeitschriftenkatalog ganz richtig "angesetzt" wurde, ob die Vergabe von Schlagworten für eine Broschüre im Monographienkatalog wissenschaftlichen Kriterien standhielt. Lustvoller war, daß eine ganz bestimmte Zeitung, die wir spannend fanden, in unsere Bestände aufgenommen werden konnte, daß eine Dokumentation, die eigentlich längst nicht mehr zu bekommen war, in irgendeiner geschenkten Sammlung auftauchte, wenn sich durch eine Schenkung plötzlich Lücken im Bestand einer bereits vorhandenen Zeitung schließen ließen. Das Archiv war für manche Beteiligte ein - wenn auch ernst genommenes - Spiel. Diese Zeit ist vorbei. Die unübersehbare Masse von Material ist selbst für die bezahlt im Archiv beschäftigten Mitarbeiter kaum noch zu überschauen. Nur sie wissen noch einigermaßen, wo sich welche unerschlossene Sammlung befindet. Der Anspruch, "alles, was wir besitzen, soll nachgewiesen sein", wurde längst aufgegeben, mußte aufgegeben werden, nicht zuletzt, weil immer weniger Leute ehrenamtlich bei der Katalogisierung halfen. Ehrenamtliche Arbeit bis hin zur Selbstausbeutung auf lange Sicht erfordert ein hohes Maß an Motivation. Solche Motivation läßt sich, wenn Verdienst oder Karrieregelüste keine Rolle spielen, längerfristig nur aufrechterhalten, wenn man/frau an Planungs- und Entscheidungsprozessen beteiligt ist. Eine solche Beteiligung war am Anfang - auch bei weniger wichtigen Entscheidungen - sehr leicht zu organisieren. Je größer das Archiv wird, je häufiger und schneller Entscheidungen in der täglichen Arbeit getroffen werden müssen, desto seltener kommt es noch zu offenen Diskussionen. Diejenigen, die in der täglichen Arbeit stehen, konfrontieren inzwischen die ehrenamtlich Beteiligten mit ihren Entscheidungen und machen oft eine echte Diskussion unmöglich. Die Sachzwänge haben auch im afas Einzug gehalten und zerstören immer stärker die Lust auf ehrenamtliches Engagement. Auch ein Archiv für alternatives Schrifttum unterliegt der Gefahr, durch manchmal herbeigeredete Sachzwänge Lebendigkeit einzubüßen und zu einer verstaubten Institution zu werden! Die Bedürfnisse derjenigen, die vom afas leben wollen, müssen andere sein, als die derjenigen, die sich hier nur 'verwirklichen' wollen. Das versteht sich von selbst. Beides unter einen Hut zu bekommen, bleibt eine Aufgabe, die der Mühe wert ist.

Gegenöffentlichkeit gestern und heute

Nicht nur die Arbeitsbedingungen im Archiv für alternatives Schrifttum haben sich verändert. Auch die Publikationen der Initiativen, die hier als Gegenöffentlichkeit gesammelt werden, sehen heute z.T. ganz anders aus als in den ersten Jahren. In der 1985 geschriebenen Satzung wurde als Zweck des Archivs der Anspruch formuliert, "Materialien aller derjeniger Gruppen und Initiativen möglichst umfassend..." zu archivieren und inhaltlich und formal zu erschließen, "die außerhalb oder am Rande der traditionellen Parteien und Verbände arbeiten, d.h. die selbstorganisiert bzw. selbstverwaltet im politischen, sozialen oder kulturellen Bereich arbeiten und emanzipative Ziele verfolgen." Emanzipation als Schlagwort der Studentenbewegung bedeutete Befreiung von Herrschaft des Menschen über den Menschen. Ein großes Wort, unter das sich die Befreiungskämpfe in der Dritten Welt ebenso subsumieren ließen wie die Streiks von Metallarbeitern, die Kämpfe von Jugendlichen um selbstverwaltete Jugendzentren ebenso wie der umfassende Anspruch von Frauen auf den Abbau der Männerherrschaft in der Gesellschaft. Gegenöffentlichkeit, ein Begriff der Studentenbewegung, sollte aufklären, die Menschen in die Lage versetzen, ihre eigenen Interessen zu erkennen und sich gegen Herrschaftsverhältnisse zur Wehr zu setzen: "Wir sind nicht hoffnungslose Idioten der Geschichte, unfähig, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen" (Dutschke). Die Zeitungen, die in der Studentenbewegung Bedeutung hatten oder in ihrem Rahmen entstanden, die Neue Kritik des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), der Berliner Extradienst, die links des Sozialistischen Büros in Offenbach, die Rote Pressekorrespondenz, ursprünglich eine undogmatische Studentenzeitung aus Berlin, waren mehr oder weniger theoretische Organe einer um ihr Selbstverständnis ringenden, sich als politische Bewegung verstehenden Außerparlamentarischen Opposition. Schon in der Studentenbewegung gab es sehr unterschiedliche Definitionen des Begriffs Emanzipation. Die Frauen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, die im September 1968 Hans-Jürgen Krahl, einem Mitglied des Frankfurter SDS, Tomaten an den Kopf warfen, hatten sicherlich eine andere als die Männer. Das theoretische Organ des SDS, die Neue Kritik, stellte 1970 sein Erscheinen ein. Die Rote Pressekorrespondenz der Studenten-, Schüler- und Arbeiterbewegung transformierte sich Anfang der 70er Jahre von einer antiautoritären Zeitung zum Organ des dogmatischen marxistisch-leninistischen Kommunistischen Studentenverbands (KSV). Mit dem Zerfall der Studentenbewegung entstanden auf der einen Seite die Zeitungen der marxistisch-leninistischen und trotzkistischen Splittergrüppchen, die mit historisch überholter Stellvertreterpolitik und z.T. stalinistischen Konzepten die Arbeiterklasse erziehen wollten. Für sie war die Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen gleichbedeutend mit der Begründung der Herrschaft der Partei mit der richtigen Linie über die Menschen. Im Gefolge der Endeckung der Arbeiterklasse gaben Studenten Betriebszeitungen in verschiedenen Unternehmen heraus, die in Abgrenzung zu den Zeitungen der Firmenleitungen und denen der Gewerkschaften unabhängig über Konzernpolitik einerseits und Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse andererseits berichteten. Von allzu klassenkämpferischem Pathos geprägt, fanden diese Publikationen jedoch meist bei ihren Adressaten, den Arbeitern, wenig Anklang. Viele wurden im Verlauf der siebziger Jahre wieder eingestellt. Gegen die Marxisten-Leninisten gründeten erklärterweise undogmatische Gruppen Anfang bis Mitte der siebziger Jahre theoretische Diskussionsorgane. In Berlin erschienen der Lange Marsch, die Schwarzen Protokolle und Radikal und in Frankfurt Wir wollen alles und die Autonomie. ähnliche Positionen vertraten die stärker an praktischen Auseinandersetzungen orientierten Zeitungen wie der Frankfurter Pflasterstrand, das Kölner Volksblatt, das Info Berliner Undogmatischer Gruppen oder das Blatt aus München. Diese bildeten die Vorläufer der in den folgenden Jahren überall aus dem Boden sprießenden Statt-, Stadt- und Volksblätter, die alle den Anspruch hatten - zum großen Teil regional begrenzt - über Mißbrauch politischer oder ökonomischer Macht zu berichten und die den von den Betroffenen selbst organisierten Widerstand in den Mittelpunkt stellten. Die Politik der Roten Armee-Fraktion, die Haftbedingungen der in deutschen Gefängnissen einsitzenden RAF-Mitglieder und die Hungerstreiks der Gefangenen führten in den siebziger Jahren zu Solidarisierungs- und Entsolidarisierungdebatten und zu endlosen Gewaltdiskussionen, an denen ein Teil der zuletzt beschriebenen Blätter zu zerbrechen drohte. Zur gleichen Zeit etwa entstanden die ersten, sich als Gegenöffentlichkeit verstehenden, überregionalen Frauenzeitungen, die Berliner Courage (1976), die Emma (1977) und in ihrem Gefolge eine Vielzahl kleinerer Zeitungen, die regional begrenzt arbeiteten, wie z.B. die Essener Klara, die Komma in Düsseldorf, die Lila Lotta in Bonn, Münsters Schamlose Frauenzeitung und viele andere mehr. Die meisten dieser Zeitungen setzten sich mit spezifischen Frauenproblemen auseinander, die sie in den kommerziellen Frauenzeitungen nicht und in den anderen o.g. Zeitungen viel zu wenig repräsentiert fanden. Benachteiligung von und Gewalt gegenüber Frauen, aber auch ihr Widerstand dagegen in allen gesellschaftlichen Bereichen waren hier die Themen. Mit dem Satz "Frauen gemeinsam sind stark" sollte der Vereinzelung und dem Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber Männern begegnet werden. Die Mitte der siebziger Jahre entstandene Anti-AKW-Bewegung, die sich mit der Gefahr der zivilen Nutzung von Kernenergie auseinandersetzte, beschäftigte sich nicht nur mit Atomkraftwerken, sondern bald mit den ökologischen Grundlagen des Lebens überhaupt. Anti-AKW-Zeitungen, Zeitungen für gesunde Ernährung, gegen die Zubetonierung der Städte und eine auto-, aber nicht menschengerechte Verkehrsplanung tauchten auf. Die Aufrüstungspläne der NATO und der Warschauer-Pakt- Staaten ab Ende der siebziger Jahre führten dazu, daß sich in der Bundesrepublik eine neue Friedensbewegung entwickelte. In der Folgezeit erschien eine Vielzahl von Zeitungen regionaler Friedensgruppen, die über Rüstungspläne auf nationaler und internationaler Ebene berichteten und zu Aktionen und Demonstrationen dagegen aufriefen. Es war die Zeit der großen Friedensdemonstrationen, der Lichterketten und Sitzblockaden vor NATO-Basen. Mitte der achtziger Jahre entstanden im Gefolge der rapide anwachsenden Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland die ersten Arbeitslosenzeitungen. Es ging darum, die Betroffenen zu ermutigen, ihre Rechte wahrzunehmen, und darum, Behördenwillkür der Arbeitsämter aufzudecken. In die gleiche Richtung gehen die heute erscheinenden Obdachlosenzeitungen. Mit dem sich formierenden Rechtsradikalismus und der wachsenden Ausländerfeindlichkeit in der Bundesrepublik der späten achtziger und der frühen neunziger Jahre gründeten sich als Gegenbewegung die Antifa-Gruppen in verschiedenen Städten. Von der Polizei aufgrund ihrer teilweisen Militanz manchmal heftiger als die Rechtsradikalen bekämpft, verfolgten diese Gruppen mit ihren Zeitungen das Ziel, die Politik der Rechten offenzulegen, die Verbindungen dieser Organisationen zu bekannten Personen aus Politik und Wirtschaft aufzuzeigen und zu Aktionen gegen die Rechten und zum Schutz von Ausländern aufzurufen. Und dann kam das Jahr 1989 mit dem Bürgerexodus aus der Deutschen Demokratischen Republik über Ungarn und die Tschechoslowakei in den Westen, mit den Leipziger Montags- Demonstrationen, mit dem 9. November. Was niemand für möglich gehalten hatte, passierte plötzlich in wenigen Tagen: Die Berliner Mauer fiel. Die demokratische Revolution in den Ostblockländern veränderte die politische Landschaft der Welt, zerstörte die festgefügten Fronten der letzten vierzig Jahre innerhalb weniger Monate. In vielen Städten der DDR hatte sich die Oppositon in Neuen Foren, Bürgerbewegungen und Runden Tischen organisiert. Die Zeitungen waren anders als der verordnete Journalismus in der staatssozialistischen Republik. Oft nannten sie sich die Anderen. Die Andere aus Berlin, Die Andere Potsdamer Zeitung, Die Leipziger andere Zeitung u.s.w. Einige der hier beschriebenen Bewegungen haben im Lauf der Zeit an Lebendigkeit verloren: Die Anti-AKW-Bewegung ist mit den Grünen in die Parlamente eingezogen und findet ihre Argumente jetzt in den Massenmedien wieder. Die Friedensbewegung hat, seitdem die großen internationalen Aufrüstungsprojekte an Bedeutung verloren haben und regional begrenzte, militärisch ausgetragene Nationalitätenkonflikte an der Tagesordnung sind, Schwierigkeiten, ihre Position zu bestimmen. Eine ganze Reihe der ehemals in vielen Städten existierenden Stadt- und Volksblätter haben ihr Erscheinen eingestellt, weil die Leute, die sie machten, inzwischen einen Job fanden, weil Berichte und Artikel freiwilliger Mitarbeiter ausblieben, weil die Arbeit sie überforderte, weil die Zeitung des grünen Kreisverbands ihre Funktion übernommen hat oder weil es einfach an öffentlichem Interesse mangelte und die Klientel zu den bürgerlichen Massenmedien oder der TAZ abwanderte. Die größte überlebenschance hatten die Stadtmagazine, die sich professionalisierten, z.T. entpolitisierten und Werbeanzeigen einen größeren Platz einräumten. Die Zeitungen der Bürgerbewegungen in der DDR sind, als nach der Vereinigung deutlich wurde, daß es keinen eigenen Weg, sondern nur die bedingungslose Anpassung an den Westen geben würde, nach und nach mit den Bürgerbewegungen eingeschlafen. Was es immer noch und immer mehr gibt: Zeitungen von Bürgerinitiativen, die sich um einzelne Probleme in ihrer Nachbarschaft kümmern, die sich gegen den Bau einer Straße, gegen die Schließung eines Kindergartens, gegen die Einrichtung einer Mülldeponie wehren. Häufig mit dem Vorwurf des "Sankt-Florian-Prinzips" belegt, führen sie doch z.T. eine Tradition von Aufklärung und Widerstand fort, die in der Studentenbewegung mit dem globalen Anspruch der Gesellschaftsveränderung einige Verkrustungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft aufbrechen konnte. Und auch Zeitungen, die nach dem "What's left" im doppelten Sinne und nach Perspektiven fragen, existieren ja noch: Es gibt noch die links des Sozialistischen Büros in Offenbach, die aus dem Zerfallsprozeß des Kommunistischen Bundes Westdeutschland hervorgegangene Kommune, den Arbeiterkampf aus Hamburg. Es gibt die Contraste, bundesdeutsche Zeitung für Selbstverwaltung, die sich z.T. selbstkritisch mit Möglichkeiten, Perspektiven und Problemen von Selbstverwaltungskonzepten, von Kooperativen und Genossenschaften auseinandersetzt, die Antifaz aus Recklinghausen, die über Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten in Deutschland und im Ausland berichtet. Im Telegraph aus Ostberlin diskutiert die parteiunabhängige, aus den Bürgerbewegungen kommende Linke der neuen Bundesländer ihr Selbstverständnis und ihre Perspektive. Es gibt aber auch noch die Parteien und Bünde und ihre Organe, auch wenn sie sich inzwischen zu drei Hauptströmungen vereinigt haben, zur Vereinigten Sozialistische Partei mit der Zeitung SOZ, zum Bund Westdeutscher Kommunisten mit den Politischen Berichten und zur Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands, deren Parteiorgan immer noch die Rote Fahne heißt. Parallel zu diesem hier in seiner Entwicklung skizzierten politischen Strang von Gegenöffentlichkeit entwickelte sich der kulturelle. Hier ging es z.T. um Aufklärung, aber auch darum, Medien zu schaffen für diejenigen, die kreativ werden wollten und die in der Welt des KulturKommerz keinen Platz fanden oder finden wollten. Kleine, ambitionierte Kunst- und Literaturzeitungen, wie der Zwiebelzwerg aus Düsseldorf, der Zeilensprung aus Köln und Pips aus Bonn gehören ebenso in diesen Bereich, wie die unabhängige Musikzeitung Spex aus Köln oder wie die heute in vielen Städten publizierten Fanzines, die sich mit Undergroundmusic, mit dem Lebensgefühl von Punk-Gruppen, kleinen, am Rande der Selbstausbeutung arbeitenden Music-Labels u.a. beschäftigen.

Schluß

Zu allen hier erwähnten Bewegungen und Entwicklungen gibt es Material im afas. Viele Zeitungen sind von der ersten bis zur letzten Nummer, andere in Bruchstücken, wieder andere im Abonnement fortlaufend vorhanden. Wir haben Flugblätter, Plakate, Broschüren und Dokumentationen hauptsächlich aus Nordrhein-Westfalen, aber auch aus anderen und aus den neuen Bundesländern im Archiv. Die Entscheidung, welche neuen Titel in den Bestand aufgenommen werden sollen, ist nicht immer ganz einfach. "Was hat ein Fanzine, was eine Zeitung von Obdachlosen mit Emanzipation zu tun?", ist eine berechtigte Frage. Auch bei uns ist der Begriff nicht unumstritten, aber Konsens ist nach wie vor: Jedes Dokument, das den Versuch von Menschen widerspiegelt, ihre eigenen Interessen in die Hand zu nehmen und dabei weder die Interessen von anderen zu verletzen noch andere gesellschaftliche Gruppen zu diskriminieren, ist es wert, bewahrt zu werden. All diese Dokumente machen gesellschaftliche Defizite deutlich und belegen, daß die Wahrnehmung der eigenen Interessen nur begrenzt delegierbar ist. Zu oft hat die Mehrheitsgesellschaft die Tendenz, die Rechte von Minderheiten zu beeinträchtigen. Die Materialien zeigen aber auch, daß Maßnahmen politischer Entscheidungsträger nicht bedingungslos akzeptiert werden müssen. Widerstand gegen Diskriminierung von Unterprivilegierten, gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung von Randgruppen, gegen Zerstörung unserer natürlichen Lebensbedingungen ist möglich. Es bleibt zu hoffen, daß immer wieder Gruppen und Bewegungen entstehen werden, die die Erinnerung hieran wachhalten. "...und konnten selbst nicht freundlich sein", heißt es in Brechts Gedicht An die Nachgeborenenen. Das trifft oft auch auf die Gruppen zu, die Befreiung und Selbstveränderung auf ihre Fahnen geschrieben haben. Trotzdem haben sie ein kleines Stück Geschichte der Bundesrepublik mitgeschrieben. Ohne all diese Gruppen und ihre Aufklärungs- und Widerstandskampagnen hätte es kaum die Anfänge von Bewußtseinsveränderung in einer immer breiter werdenden öffentlichkeit gegeben. ökologische Probleme, Energieeinsparung, Müllvermeidung und Reduzierung des individuellen Autoverkehrs stehen auf der politischen Tagesordnung. Die Massenmedien, Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen rufen zur Gegenwehr gegenüber dem sich formierenden Rechtsradikalismus auf. In Stellenausschreibungen werden Frauen ausdrücklich zu einer Bewerbung aufgefordert, und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist Thema auf Personalversammlungen. Im folgenden Ausstellungskatalog sollen die oben beschriebenen Entwicklungen, einzelne Stationen der "alternativen" deutschen Nachkriegsgeschichte von den sechziger bis zu den neunziger Jahren, schlaglichtartig beleuchtet werden. Während in der Ausstellung dem alternativen Schrifttum aus Nordrhein-Westfalen ein größerer Platz eingeräumt wird, dokumentiert der Katalog stärker die bundesweite Entwicklung alternativer Bewegungen anhand von Materialien der überregional bekannteren Alternativpresse. Hiermit wird der Hintergrund für die in der Ausstellung gezeigten, in Nordrhein-Westfalen publizierten Flugblätter und Zeitungen deutlich. Die folgende Textdokumentation besteht nicht nur aus originalen Zeitungsseiten und Flugblättern, sondern auch aus von uns zusammengestellten und montierten Artikeln. Natürlich handelt es sich bei dem im Katalog und in der Austellung präsentierten Material nur um eine subjektive Auswahl. Wir erheben nicht den Anspruch auf objektive Geschichtsdarstellung, sondern versuchen, beschränkt auf einige Schwerpunkte, die Vielfalt der alternativen Bewegungen, ihre Ausdrucksformen, aber auch ihre inneren Widersprüche und Probleme anschaulich zu machen. Damit wollen wir zum Nachfragen und zum Weiterlesen und dazu anregen, sich selbst einzumischen, wo es nötig ist.

 


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Stand: 17.07.2009 afas-archiv t-online.de